Hier findet Ihr den vollständigen Text der Geschichte "Kirche geöffnet", die von der Einwohnerin Grosse_Baerin aus funcity geschrieben und im Gottesdienst am 1. April 2025 auch selber vorgelesen wurde. Das Copyright liegt ausschließlich bei ihr, und die Geschichte darf ohne ihre ausdrückliche Zustimmung nicht weiter verbreitet werden.
Es war wohl dieses besondere Licht vor der Abenddämmerung an jenem Tag im Frühsommer und die Tatsache, dass sie mehr als zufrieden an den gerade getätigten Geschäftsabschluss mit einem alten Freund in den Niederlanden dachte, so dass sie ganz und gar keine Eile hatte und spontan beschloss, auf dem Weg nach Hause vorzeitig, sogar noch ein gutes Stück vor der Rheinüberquerung, von der Autobahn abzufahren und das letzte Stück des Weges über Landstraßen zurückzulegen. Jahrzehntelang hatte sie das vermieden, aber nun genoss sie fast übermütig den Anblick der ihr bekannten flachen Landschaft, der Felder und Hecken und Weiden und Ortschaften, so frisch, wie er nur im Frühling sein kann, und so goldig übergossen von der milden Sonne, wie es nur an besonderen Tagen vor dem hereinbrechenden Abend ist.
"Kirche geöffnet" stand auf einem Plakat vor dem Friedhof, und sie las es verwundert gerade noch im Vorbeifahren. Diese Kirche war geöffnet? Da war ihr Fuß schon auf der Bremse, und der Wagen kam direkt vor der Einmündung des kleinen Weges hinter der unteren Friedhofsmauer zum Stehen. Sie bog ein. Es war so eng hier, dass gerade ein Wagen Platz finden konnte, vorausgesetzt, der Fahrer riskierte Blechschäden durch Traktoren oder Pferde auf deren Weg von oder zu den Wiesen.
Sie stieg aus und balancierte ein paar Meter auf dem Bürgersteig, der hier so schmal war, dass man kaum auf ihm gehen konnte, zur Seitentür des Friedhofs zurück. Das Metallgitter des Tors quietschte wie früher. Sie stieg die Treppen hinauf und passierte die Gräber der alteingesessenen Familien rechts und links des Weges. Für einen Moment hatte sie das Empfinden, die bekannten Namen auf den Grabsteinen würden sie erfreut grüßen, und weil ihr heute der Schalk sowieso im Nacken saß, hob sie leicht die Hand und winkte ihnen lächelnd zu.
Sie gelangte von der Seite an die kleine, gotische Sandsteinkirche und dann zum großen Tor. Es stand offen, und sie konnte durch die Glastür dahinter in den Innenraum sehen. Noch war es nicht dunkel genug, um das Licht der Kerze auf dem Altar richtig wahrzunehmen; die Sonne schien in den Kirchenraum hinein und überstrahlte es.
Im kühlen Innenraum hielten drei Damen Stallwache. Sie saßen in den vorderen Bänken zusammen und wandten ihr ruckartig die Köpfe zu, als sie die Schritte auf dem Steinboden hörten. Sie hatten wohl niemanden mehr erwartet, erstaunte Blicke trafen sie. Sie war ihnen fremd, keine von ihnen erkannte sie, es waren wohl schon zu viele Jahre vergangen. Aber sie hatte ihre Gesichter nicht vergessen: zwei ehemalige Lehrerinnen und eine ehemalige Erzieherin. Alle drei waren vor langer Zeit, als sie selbst noch dieser Gemeinde angehörte, "neu Zugezogene" gewesen, solche, die in den eingegliederten Ortsteil gezogen waren, um im zunehmend angesagten Vorort im Grünen zu wohnen.
Sie grüßte freundlich, und alle drei hießen sie sofort willkommen und bemühten sich um sie. Wie schön, dass sie als Fremde gekommen sei, und ob man ihr etwas über dieses Kleinod von Kirche erzählen dürfe? Sie bejahte lächelnd, und erklärte, dass sie zufällig durch den Ort gefahren sei und das Plakat draußen gelesen habe. Sie erfuhr, dass in diesem Sommer die Kirche mittwochnachmittags für die Fremden geöffnet sei, ein Versuch, die Geschichte des Gotteshauses an wissbegierige Touristen weiterzugeben.
Insgeheim bezweifelte sie, dass die Damen ihr viel Neues würden erzählen können, war sie doch in dieser Kirche getauft und konfirmiert worden und hatte sie hier geheiratet, nur die Beerdigung fehlte noch, und sie war sich keinesfalls sicher, dass sie sich dann wünschen würde, von hier aus bestattet zu werden.
Ihr Blick glitt über das schwarze Buch, das eine der Damen neben sich liegen hatte. In ihrem eigenen Bestand befand sich eine Erstausgabe davon; sie hatte den Autor lange vor seinem Tod noch persönlich gekannt und geschätzt. Die Damen bedauerten, dass der bekannte Sprach und Heimatforscher mittlerweile verstorben und das Buch leider vergriffen sei, aber sie könne es bei Interesse immerhin über die Fernleihe beziehen.
Sie setzte sich zu ihnen, und im Buch nachschlagend erzählte man ihr stolz das, was sie schon lange wusste, beginnend bei der Orgel. Sie aber hatte auch deren Vorgängerin noch gehört, und so machten sich ihre Augen und ihre Gedanken und ihr Herz auf zu ihrem ganz eigenen Rundgang.
Offenbar waren die mitwissenden Mauern des Gebäudes zwischenzeitlich mehrfach saniert worden, ausgebessert zumindest, doch der Putz hatte nicht dauerhaft darauf gehalten. Ihr geübtes Auge fand die Risse an den kritischen Stellen: Bergschäden. Damals waren die Risse viel breiter gewesen, und sie hatten ihr fast körperliche Schmerzen verursacht. Man hatte an einigen Stellen die Finger in die Wunden der Kirche legen können, und sie hatte es getan. Immer wieder wurden die Spalten zugespachtelt, immer wieder kam neue Farbe darüber, immer wieder brachen sie auf.
Aber statt des dunklen roten Steinfußbodens, auf dem sie in ihrer Verzweiflung gelegen hatte, waren jetzt hübsche hellbeige Marmorplatten eingelegt worden, statt des früheren grellen kalten Weiß und hellen Graus der Wände gab es jetzt durchgehend freundliche Gelbtöne. Es war schwer vorzustellen, dass an solch einem hübschen Ort jemand klagte und weinte. Aber damals hatte es zumindest eine getan, hatte sie es jahrelang getan.
Ihre Augen glitten von den silbernen Pfeifen der Orgel hin zu einer schmalen Tür daneben. Im zweiten Schuljahr hatte die Klasse noch hinauf gedurft in den Kirchturm. Durch die kleinen Luken flogen die Glockentöne ins Umland, und die Kinder fragten die Lehrerin, wie weit so ein Glockenton fliegt. Sie wusste es nicht. Das stand auch nicht in dem schwarzen Buch, und nach landläufiger Meinung ist die Beantwortung derartiger Fragen auch für das gesellschaftliche Ansehen eines Menschen obsolet.
Die Empore vor der Orgel war damals dem Frauenchor vorbehalten gewesen. Alle gefürchteten Matronen des Ortes hatten sich dort getroffen und "Jesus meine Zuversicht" gesungen, alle einflussreichen Bauernfamilien, alle Geschäftsleute waren vertreten gewesen. Von hier oben wurden im Gottesdienst die Gemeindemitglieder, der Pastor und vor allem die Kinder genau beobachtet und auch registriert, wer fehlte. Gründe dafür zählten nicht. Hier wurden Stäbe gebrochen und bestimmt, wer keinen Respekt besaß.
Den Frauenchor gab es nicht mehr, er war vor einigen Jahren aufgelöst worden, was die Damen nicht bedauerten. Viel besser war doch das jetzige Vereinsleben mit dem neuen gemischten Chor oder dem Tennisverein oder dem Golfclub oder beim Segeln, nicht zu vergessen der aus den Medien bestens bekannte Hockeyclub. Die Zugezogenen brachten ihre Kultur ein, und es bildete sich Neues. Der Ort entwickelte sich, und so fanden jetzt kleine, aber feine Konzerte in der Kirche statt.
Stühle standen immer noch auf der Empore. Von dort oben hatte jemand sie in ihrer Not beobachtet. Sie war zu schwach gewesen, um wütend zu sein, zu verzweifelt, um zu schreien, aber sie musste fortan spezielle Blicke ertragen, wenn sie an der Tür zum Pfarrhaus klingelte, um den Pfarrer zu sprechen, was selten genug geschah, oder um den Schlüssel zur Kirche zu erbitten. Spott hatte sie angesprungen und überhebliche Milde und ein "Ach, Sie schon wieder!". Sie hatte dazu geschwiegen und die Augen niedergeschlagen und allem unausgesprochenen Gerede blutenden Herzens Stand gehalten.
Jener Pfarrer war nun schon lange tot, aber noch immer hatte sie seine Stimme im Ohr, als er sagte, so gehe es nicht mehr weiter, er müsse an seinen Ruf denken, er könne seiner Frau das Gerede nicht weiter zumuten. Und was war mit ihr? Hatte sie keinen Ruf? Redete man nicht auch über sie? Aber immerhin, er hatte dafür gesorgt, dass sie eine Zeitlang einen geschützten Raum hatte. Sie war dankbar, dass sie keine Bitterkeit mehr in ihrem Herzen spürte. Nein, sie war dankbar, dass es schon so lange her war und sie sich nicht mehr in einer solchen Situation befinden musste. Bitterkeit fühlte sie immer noch. Verleumdung und üble Nachrede bleiben lebenslang zerstörende Selbstläufer, und die ganze Wahrheit zu wissen ist selten nötig für das eigene gute Leben.
Die Damen erzählten mittlerweile die Geschichte der Kanzel. Sie erzählten die Geschichte des neuen modernen Kirchenfensters, das schon zu ihrer Jugend eingesetzt worden war, und das trotz der Bedeutung des Künstlers kalt wirkte. Aber sie, und vielleicht nur sie, wusste, dass es ein winziges Stück roten Glases in diesem grauen Fenster dort oben gab, durch das die Strahlen der aufgehenden Sonne im Hochsommer für wenige Minuten ganz merkwürdig gebrochen wurden und so die innere Architektur der Kirche aufzuheben schienen. Sie hatte es selbst erlebt, atemlos überrascht war sie von der Schönheit des Lichtspiels plötzlich umfangen worden.
Eine der Damen wies auf die Altarbibel. Sie war in Silber eingeschlagen, und man war sehr stolz darauf. Sie war ein Geschenk eines unbekannten Spenders, dessen Namen der alte Pastor mit ins Grab genommen hatte. Mit einer gewissen Lüsternheit wurde sie auf Spekulationen einiger Dorfbewohner hingewiesen, dass diese Bibel mit gewaschenem Geld oder gar Schlimmerem angeschafft worden war, um ein kriminelles Gewissen zu beruhigen. Ja, aber, vielleicht war auch wirklich nur jemand einfach dankbar gewesen für etwas, das er oder sie hier in der Kirche erlebt hatte, gab sie zu bedenken. Die Damen verneinten einmütig, lachend, wenn es so jemanden gäbe, würden sie den kennen.
Sie erhob sich und trat an den Altar. Ihre Hände gingen über den Silbereinband. "Darf ich etwas vorlesen?" Die Damen nickten entzückt. Sie schlug das Buch auf und blätterte ein bisschen darin herum. Sie spürte auf einmal die gleiche Kraft wie vor Jahrzehnten, als sie eine Zeitlang immer wieder an dieser Stelle gestanden hatte, mit der alten Bibel, ohne Silber, abgegriffen, alleine vor Gott, alleine mit Gott. Sie blickte auf und sah auf die Wand, an der sie kraftlos hinunter geglitten war, weil ihr die Beine den Dienst versagten. Sie sah die Stelle auf dem Fußboden, wo sie gelegen hatte, den Mantel nass von Tränen, frierend, denn die Kirche war nicht geheizt, mit heißem Gesicht, unfähig, sich zu rühren, erfüllt nur von einem Gedanken: "Herr, Gott, hilf!", unfähig, ihr Anliegen in mehr Worte zu kleiden, unfähig, ein Wort hervorzubringen.
"Suche Frieden und jage ihm nach!" murmelte sie gedankenverloren vor sich hin, hatten ihre Augen zufälligerweise doch genau diese Stelle gefunden. Sie wollte weiterlesen, brach aber ab und dann las sie den gesamten 34. Psalm von Anfang an laut vor, wenn schon, denn schon. Die Damen waren ergriffen und drückten ihr dafür den Kirchenflyer in die Hand. Es war genug für heute. Es wurde dunkel. Man nahm Abschied.
Wieder draußen blieb sie kurz stehen und blickte zurück. Der Schein der Kerze hatte den Altarraum in Besitz genommen hatte. Ein Licht schien in der Finsternis, und die Finsternis hat′s nicht ergriffen. Die Damen löschten die Kerze. Sie ging weiter.
Sie hatte heute Geschichten über jenes Kirchengebäude gehört. In den Häusern Gottes jedoch tragen Zeugnis gebende stumme Mauern die Schicksale ihrer Menschen Gott an.
Sie schloss die Tür ihres Wagens auf und fuhr auf dem schnellsten Weg nach Hause.